Das Team im Gespräch mit der Stiftung EVZ
Fragen an das Berghof-Team
Stiftung EVZ: In drei Spielsträngen stellt die Visual Novel Biografien von Menschen ins Zentrum, deren Erfahrungen und Perspektiven in der deutschen NS-Erinnerungsarbeit bisher wenig Beachtung erhalten: Welche Geschichte berührt Sie persönlich am meisten?
Anna: Für mich haben alle Geschichten ganz besondere Panels und berühren mich auf unterschiedliche Art und Weise. Deshalb würde ich keine Geschichte besonders hervorheben.
Dagmar: Anna, ich teile deinen inneren Widerstand eine der Geschichten hervorzuheben. Im Entwicklungsprozess kam mir die Metapher des Kaleidoskops der im dominanten deutschen Erinnerungsdiskurs marginalisierter Perspektiven auf NS-Unrecht, Zivilcourage und Widerstand. Jede Geschichte steht für sich, ganz gleich den bunten, schillernden Steinchen im Kaleidoskop. Doch erst im Zusammenspiel entsteht so etwas wie ein Bild des Ganzen – jedes Steinchen, das heißt jede Perspektive, hat einen Platz und ist wichtig, damit wir von multiperspektivischem Erinnern sprechen können. Zugleich werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf zahlreichen Ebenen sichtbar. Im Zusammenspiel der Episoden zeichnet sich zudem ein Gesamtbild komplexer und auch widersprüchlicher Emotionen ab, fast so wie ich sie immer wieder erlebe, wenn ich mich mit der Thematik der Visual Novel auseinandersetze.
Stiftung EVZ: Im Zuge der Entwicklung und Umsetzung der Visual Novel kollaboriert Ihr Team mit Graphic Novelist*innen, die sich der jüdischen, der Schwarzen, der Sinti* und Roma* sowie der LGBTIQ-Community zugehörig fühlen: Wie haben Sie die Zusammenarbeit erlebt und wie wurde durch den Austausch das Projekt geprägt?
Dagmar: Ich habe sie sowohl persönlich als auch professionell als sehr bereichernd erlebt. Fast wie ein großes Geschenk. Dabei empfinde ich große Dankbarkeit, dass wir uns alle wechselseitig einen riesigen Vertrauensvorschuss gegeben haben, indem wir uns gemeinsam auf dieses Vorhaben eingelassen haben. Und das vor dem Hintergrund, dass jede:r einen „Rucksack“ individueller und persönlicher Erfahrungen mit sich trägt, während in den letzten zwei Jahren auch viel Erschütterndes in der Welt und im Leben mancher Teammitglieder passierte. Ich habe den Eindruck, dass diese prall mit Leben gefüllten „Rucksäcke“ und ihr Zusammenspiel einerseits entscheidend sind für die Authentizität, die in allen Episoden von „ErinnerungsZeit“ steckt und sie so lebendig macht. Anderseits haben sie die Zusammenarbeit im Team manchmal auch herausfordernd gemacht.
Anna: Das Gefühl von Dankbarkeit kann ich nur teilen. Die Zusammenarbeit mit so vielen kreativen Köpfen hat mich ebenfalls auf unterschiedlichen Ebenen weitergebracht. Ich erhielt Einblicke in verschiedenste Lebensweisen und Erlebtes – nicht selbstverständlich, vor dem Hintergrund von Diskriminierungserfahrungen. Schön dabei fand ich, dass wir uns durch die intensive Zusammenarbeit als Menschen kennengelernt haben und das Kennenlernen über eine klassische professionelle Beziehung hinaus ging.
Dagmar: Wenn ich den Künstler*innen zuhöre, habe ich zudem den Eindruck, dass wir alle sehr viel mit- und voneinander gelernt haben. Ich vermute, das war in dieser Form nur möglich, weil wir einander immer wieder Raum gegeben haben, auch für persönliche Prozesse. Ich nehme in mir eine demütige und sehr wertschätzende Haltung wahr für all das, was jede:r im Team für sich und gemeinsam bewegt hat. Innerlich machte ich dabei häufig einen Spagat zwischen dem Wunsch, einerseits den einzelnen Menschen mit seinen Bedürfnissen zu priorisieren und anderseits dem Wunsch innerhalb eines gesteckten Zeitrahmens gemeinsam eine Visual Novel zu entwickeln, die Menschen mitnimmt und vielleicht sogar begeistert. Dabei hat mich die innere Haltung des Konzepts des „guten“ oder „wichtigen“ Grundes aus der systemischen Beratung unterstützt.
Anna: Wichtig war uns im Prozess auch, dass die Graphic-Novelist*innen ihre persönlichen Ansichten, Erfahrungen und Expertise einbringen konnten. Sie waren nicht nur Ausführende, sondern Mitgestaltende, die ihre professionellen Kenntnisse und ihre Perspektiven eingebracht haben. So haben sie aus dem Grundgerüst etwas ganz Lebendiges entwickelt.
Dagmar und Anna: Wir haben uns ganz bewusst dafür entschieden, den Prozess auf diese Weise mit einem divers positionierten Team zu gestalten. Dabei spielte auch unsere Positionierung als weiße Cis-Frauen eine Rolle und die Frage, wer wie und aus welcher Perspektive über bis heute marginalisierte Erinnerungsperspektiven spricht. Damit verbunden ist auch das Thema, wie wir proaktiv die Reproduktion tradierter Stereotypisierungen vermeiden können. „ErinnerungsZeit“ ist unser gemeinsamer Weg, zu einem inklusiven und multiperspektivischen Erinnern an NS-Unrecht und einem Bewusstsein für die Kontinuitäten von Diskriminierungen beizutragen.
Fragen an Sanja Prautzsch
Stiftung EVZ: Wie war es für dich, als Teil der queeren Community, diese Perspektive zu zeichnen?
Sanja: Es war mir eine große Ehre und eine wichtige und empowernde Erfahrung. Ich konnte sicherstellen, dass die Geschichten mit einer gewissen Sensibilität erzählt werden. Wenn man selbst betroffen ist und die Erfahrungen mit den Protagonist*innen ein Stück weit sogar teilt, kann man viele persönliche Elemente in die Geschichte einfließen lassen, was die Reise der Protagonist*innen authentischer macht. Ich glaube auch, dass allein das Wissen, dass die Episoden von einer Betroffenen von queerfeindlichen Gewalt bearbeitet worden sind, User*innen aus der Community eine Rückversicherung bietet.
Stiftung EVZ: Welche waren deine Inspirationen für die gezeichneten Geschichten?
Sanja: Die Geschichten von mutigen und widerständigen queeren Personen, wie die nicht-binäre oder genderqueere Person Fritz Kitzing, eine Person, die sich selbst treu blieb während des faschistischen Regimes; die mutige Ilse Totzke, die sich allen Konventionen widersetzte und jüdischen Menschen half, auch wenn sie damit ihr Leben aufs Spiel setzte und der Künstler Richard Grune, der als homosexueller Mann verfolgt wurde. Auch der Besuch der Ausstellung „To be seen“, des NS-Dokumentationszentrums München hat mir ein besseres Gefühl und Verständnis für das queere Leben von damals gegeben.
Stiftung EVZ: Was nimmst du für dich persönlich aus den Geschichten und dem Zeichenprozess mit?
Sanja: Es gab schon immer Menschen, die so integer waren und so sehr für das Richtige gekämpft haben, koste es, was es wolle. Das ist unglaublich bewegend und inspirierend, und ich hoffe auch nicht nur für mich, sondern für viele andere. Der ganze Prozess der Entwicklung bis hin zur Ausarbeitung hatte etwas existenziell Wichtiges. Es war für mich eine Art der Aufarbeitung und Beschäftigung mit dem kollektiven Trauma von queeren Personen, aber auch ein Quell der Stärke, es gab Menschen wie mich vor mir, und die haben es auch geschafft, die haben gekämpft und einen starken Willen gehabt. Das ist super inspirierend für meine Zukunft und mich, auch in einem Land, in der man die Kontinuität wiedersieht und Queerfeindlichkeit wieder salonfähig wird. Meine Antennen sind sehr feinfühlig und ich weiß nun, wie und auch dass Widerstand zu leisten ist.
Stiftung EVZ: Welche Message möchtest du den (jungen) User*innen mit den von dir gezeichneten Geschichten mitgeben?
Sanja: Freundlichkeit, Empathie und Hoffnung sind immer der richtige Weg und Gewalt und Unterdrückung können nie die Lösung sein. Ich möchte auch zeigen, dass Vielfalt ganz normal ist und nichts, wovor man Angst haben sollte. Vielfalt ist in uns allen, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Menschen sind super komplex und vielschichtig. Wir sind nie nur eine Sache. Wir sind alles, was uns ausmacht und auch alles, woher wir kommen, wie wir geprägt sind und welche Erfahrungen wir gemacht haben.
Stiftung EVZ: Was möchtest du noch teilen oder ist dir wichtig?
Sanja: Es ist nicht immer leicht, sich mit den Grausamkeiten der Vergangenheit (und auch der Gegenwart) zu beschäftigen. Man möchte wegschauen oder verdrängen. Aber es ist so, so wichtig, hinzuschauen und eine Beziehung dazu aufzubauen. Wir müssen uns all der Grausamkeit zuwenden, um besser verstehen zu können, was dazu führt und wie wir dagegenhalten können.
Fragen an Hamed Eshrat
Stiftung EVZ: Wie war es für dich persönlich, die Geschichten von Täter*innennachkomm*innen zu zeichnen?
Hamed: Ich mochte die Herausforderung, mich mit den komplexen und emotionalen Themen auseinanderzusetzen. Es hat mir auch erneut gezeigt, wie unterschiedlich Menschen mit ihrer Vergangenheit umgehen. Besonders spannend fand ich, dass jede Geschichte auf ihre eigene Weise eine Brücke zur Gegenwart schlägt, das hat meine Arbeit an den Zeichnungen stark beeinflusst.
Stiftung EVZ: Welche waren deine Inspirationen für die gezeichneten Geschichten?
Hamed: Die Inspiration kam oft aus den Erzählungen selbst. Ich wollte den Menschen hinter den Geschichten Raum geben, ihre Emotionen sichtbar machen und sie in alltäglichen Situationen zeigen. Visuell habe ich mich von alten Familienfotos, aber auch von modernen Stilen inspirieren lassen, um die Verknüpfung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu betonen. Außerdem hatte ich von unseren wunderbaren Projektleiterinnen eine Menge Material zur Verfügung gestellt bekommen, die mich bei den Recherchen auch inspiriert haben.
Stiftung EVZ: Was nimmst du für dich persönlich aus den Geschichten mit?
Hamed: Ich habe wiedermal viel dazu lernen dürfen. Mir ist durch die Auseinandersetzung mit den Geschichten der Täter*innennachkomm*innen noch mal eindringlich bewusst geworden, wie wichtig es ist diese Positionen aufzuarbeiten. Die Vermittlung der Perspektive der Täter*innennachkomm*innen ist essentiell, da sie unsere Gesellschaft bis heute prägen. Die Geschichten halfen mir ein besseres Bild und somit ein besseres Verständnis für diese Thematik zu gewinnen.
Stiftung EVZ: Welche Aspekte aus diesen Geschichten, denkst du, sind für junge Menschen heute relevant?
Hamed: Ich denke das Wesentliche ist an die Vergangenheit zu erinnern und zu zeigen wie schleichend die Nazis damals demokratische Verhältnisse untergraben haben. Wir beobachten jetzt wieder ähnliche Muster aufkeimen, daher ist es unheimlich wichtig junge Menschen für diese Dinge zu sensibilisieren und zu zeigen, wie wichtig es ist, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen und zu verstehen, wie tiefgreifend die Vergangenheit unser heutiges Leben beeinflusst. Diese Geschichten zeigen, wie Vorurteile und Ungerechtigkeiten über Generationen weiterleben können, aber auch, wie Menschen diese Muster durchbrechen können.
Stiftung EVZ: Welche Message möchtest du an die User*innen mitgeben?
Hamed: Habt keine Angst vor der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Diese Geschichten helfen uns zu verstehen, warum die Welt so ist, wie sie heute ist, und wie wir sie besser machen können. Bleibt neugierig, solidarisch und offen für die Geschichten der anderen, sie können uns viel lehren.
Stiftung EVZ: Was möchtest du noch teilen oder ist dir wichtig?
Hamed: Manchmal stehen wir vor einem Berg an Aufgaben und fühlen uns entmutigt. Doch wie Beppo der Straßenfeger aus Michael Endes MOMO lehrt, sollten wir uns nicht von der schieren Menge an Herausforderungen abschrecken lassen. Schritt für Schritt voranzugehen hilft – und ehe man sich versieht, hat man mehr erreicht, als man dachte.
Fragen an Yorgos Konstantinou
Stiftung EVZ: Welches waren deine Inspirationen für die Rahmenhandlung und die Episoden?
Yorgos: Meine Inspiration kommt aus den Erfolgen der antirassistischen und antifaschistischen Arbeit gegen rechts in Griechenland und Katalonien. Starke, gefühlsvolle, und ehrliche Grassroot-Communities können sehr effektiv das braune Gift bekämpfen und mit konkreten Aktionen die Gefahren konfrontieren. Hoffnung wird nicht mit Worten, sondern mit Aktionen gestiftet.
Stiftung EVZ: Welche Botschaft möchtest oder wolltest du den User*innen mit der Rahmenhandlung und der von dir entwickelten Spiellogik mitgeben?
Yorgos: Zusammen sind wir stark. Wir sollten sowohl entschlossen, wie auch flexibel sein, um über den eigenen Schatten springen zu können und eine Einheit gegen rechts zu bilden. Wenn wir uns trauen miteinander zu sprechen und bereit sind, zuzuhören, was jede Person zu sagen hat, kann keine effektive Strategie entwickelt werden.
Stiftung EVZ: Was nimmst du für dich persönlich aus der Rahmenhandlung und den Episoden mit?
Yorgos: In der Diversität der Gesellschaft steckt unser Potential. Wenn verschiedene Perspektiven wahrgenommen werden, öffnen sich neue unerwartete Wege. Gemeinsam sind wir stärker, nur wenn sich alle willkommen fühlen, gleichwertig mitzuträumen und mitzubestimmen.
Stiftung EVZ: Was nimmst du aus der Projektarbeit mit?
Yorgos: Transparenz braucht natürlich viel Arbeit, aber sie ist der beste Weg, um Schwierigkeiten zu erkennen, Unstimmigkeiten zu vermeiden und Probleme zu überwinden.
Das Interview finden sie auch auf der Seite der Stiftung EVZ (https://www.stiftung-evz.de/was-wir-foerdern/drittmittel-programme/bildungsagenda-ns-unrecht/projekte/erinnerungszeit/3-fragen-an/).